Krisen geh?ren f?r Organisationen vielleicht nicht zum Alltag, kommen aber immer wieder vor. Absatzm?rkte brechen pl?tzlich weg, weil ein Produkt nicht mehr gefragt ist, und f?hren in Unternehmen zu Liquidit?tsproblemen. Relevante Mitarbeiter verlassen gleichzeitig ein Forschungsinstitut und hinterlassen dadurch riesige Kompetenzl?cken. Das gerichtliche Verbot eines Prestigevorhabens im Bereich der Verkehrspolitik wirft nicht nur die Frage an die F?higkeiten eines Ministers auf, sondern hinterfragt auch die Qualit?t des ihm zuarbeitenden Ministeriums.
Diese Krisen k?nnen in einigen F?llen zwar aufgefangen werden, in anderen k?nnen solche Umst?nde aber sogar zum Scheitern der Organisation f?hren. Ein solches Versagen ist in der modernen Gesellschaft der Normalfall. Unternehmen kommen und verschwinden, Forschungsinstitute werden gegr?ndet und wieder aufgel?st, Ministerien gebildet und bei Bedarf auch wieder umgestaltet. F?r die Mitarbeiter mag das Verschwinden einer Organisation ein einschneidendes Erlebnis sein, die Effekte f?r die Gesellschaft sind allerdings minimal, weil andere Organisationen an die freigewordenen Stellen treten.
Anders ist es, wenn es sich nicht um eine Krise einer einzelnen Organisation handelt, sondern um die Krise eines Staates ? oder auch gleich der ganzen Gesellschaft. Man denke nur an B?rgerkriege, Hungersn?te oder Pandemien. In dem Fall handelt es sich nicht um eine Krise einer einzelnen Organisation, sondern um eine au?ergew?hnliche Situation f?r ? mehr oder minder ? alle Organisationen.
Mit Blick auf Organisationen sind in diesem Zusammenhang besonders drei Themenfelder von Interesse. Erstens zeigt sich in Krisen, wie stark Organisationen auf Effizienz getrimmt und wie viel Puffer ihnen dabei gelassen worden sind. Das Spiel ist dabei immer das gleiche: In Phasen des Normalbetriebs schl?gt die Stunde der Rationalisierer. Puffer ? der Slack der Organisation ? werden immer weiter reduziert und die Organisation auf Effizienz getrimmt. In Krisen werden die Kosten dieser Rationalisierung deutlich. Es fehlt an Zwischenlagern, um Ersatzteile schnell liefern zu k?nnen, Krankenbetten stehen nicht in ausreichender Anzahl zur Verf?gung und Personal zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung wird knapp. Im Fall der Krise wird hektisch versucht, die Folgen dieser fehlenden Puffer abzufedern und ohne Blick auf die Kosten zus?tzliche Ressourcen mobilisiert. Sind die schwierigen Zeiten aber vorbei kann man sich sicher sein, dass die ersten politischen Stiftungen und Expertenberatungsfirmen mit der Forderung nach dem Abbau von Fettpolstern in Unternehmen, Krankenh?usern oder der Verwaltung profilieren.[1]
Zweitens machen Krisen deutlich, wie eng oder lose Prozesse miteinander gekoppelt sind. Der Ausfall einer Fabrik in einem Krisengebiet ist h?ufig nicht deswegen problematisch, weil dies f?r die Versorgung vor Ort n?tig ist, sondern weil dort ein wichtiges Teil f?r einen eng gekoppelten weltweiten Produktionsprozess hergestellt wird. Wer schon einmal erlebt hat, wie bei einer Flutkatastrophe Zulieferteile notfalls mit Hubschraubern angeliefert werden, um nicht einen Produktionsstilstand in der Automobilindustrie zur Folge zu haben, wei? genau, was damit gemeint ist. Lose Kopplungen sind in Krisensituationen h?ufig vorteilhaft, weil sie auch bei einem eventuellen Ausfall vieler anderer Organisationen die Weiterarbeit erm?glichen.[2]
Drittens werfen Krisen immer wieder die Frage auf, wieviel Zentralit?t und Dezentralit?t sinnvoll sind. Sicherlich ? in Krisen wird erst einmal der Ruf nach Zentralisierung laut, weil dadurch Ma?nahmen schnell fl?chendeckend umgesetzt werden k?nnen. Auf der anderen Seite wird immer wieder hervorgehoben, dass dezentral angesiedelte Entscheidungskompetenzen eine besser an lokale Bedingungen angesiedelte Vorgehensweise erm?glichen. Je st?rker eine Krise sich aber entwickelt, desto deutlicher wird auch, dass die zentrale oder dezentrale Verortung von Kompetenzen gar keinen so gro?en Unterschied macht. Schlie?t ein Staat seine Grenzen, folgen ?ber kurz oder lang ein anderes, macht ein Bundesland seine Universit?ten und Schulen dicht, folgen kurz danach weitere. Ob diese Entscheidungen richtig oder falsch sind, kann man nicht wissen. Aber in Phasen von starker Unsicherheit orientiert man sich in der Regel nicht an einer eigenen Einsch?tzung der Lage, sondern macht das, was alle anderen auch machen ? nur um ganz sicher zu gehen.[3]
Die zentrale Frage ist in solchen gesellschaftlichen Krisen, ob die Organisationen ihre Funktionsf?higkeit aufrechterhalten k?nnen. Der Grund ist, dass die Organisationen die zentralen Instanzen sind, um die Funktionsf?higkeit von gesellschaftlichen Teilbereichen sicherzustellen. Die Wirtschaft funktioniert nicht ohne Unternehmen, die Politik nicht ohne Verwaltungen, Polizeien oder Armeen, Recht nicht ohne Gerichte, Wissenschaft nicht ohne Universit?ten, Erziehung nicht ohne Schulen, Medizin nicht ohne Krankenh?user.
In gesellschaftlichen Notlagen wird schnell deutlich, welche Organisationen f?r deren Bew?ltigung zentral sind und auf welche man gut eine Zeit lang verzichten kann. Unternehmen k?nnen Pleite gehen, was gesellschaftlich jedoch irrelevant ist, solange es nicht zu einer Kettenreaktion von Pleiten kommt, die die wirtschaftliche Handlungsf?higkeit grundlegend in Frage stellt. Ob Universit?ten zwei, drei Monate ihre Pforten schlie?en und den Konferenzbetrieb einstellen, ist ? mit Ausnahme der wenigen Forschungsfelder, die unmittelbar krisenrelevant ? egal. Vermutlich f?hrt eine erzwungene Kontaktverd?nnung in einigen Feldern sogar zu einem Fortschritt, weil ein konzentrierteres Arbeiten m?glich wird. Ob Sch?ler in ihrer Schullaufbahn zwei oder drei Monate mehr oder weniger lernen, ist f?r den von ihnen sp?ter beherrschten Wissenskanon irrelevant. In Krisen wird vielmehr deutlich, dass Schulen eine Funktion haben, die sonst eher weniger thematisiert wird ? die Funktion einer Bewahranstalt f?r Kinder und Jugendliche, damit ihre Eltern die M?glichkeit haben, Arbeiten zu gehen.
Um die Organisationen zu identifizieren, die f?r die Bew?ltigung einer Krise als zentral eingesch?tzt werden, muss man kein Organisationswissenschaftler sein. Sie werden in den Massenmedien als ?systemrelevant? bezeichnet, von der Politik kurzfristig mit Mitteln ausgestattet, die sie ?ber Jahre immer wieder vergeblich beantragt haben und ihnen wird Personal zur Verf?gung gestellt, die deren Funktionsf?higkeit aufrecht erhalten sollen. Je nach Krise variiert, welche Organisationen dazugeh?ren; in den meisten F?llen geh?ren aber die Polizeien, Armeen, Krankenh?user und die Unternehmen dazu, welche die Versorgung mit Nahrungsmitteln sicherstellen. Sie sind letztlich die Organisationen, die eine Entdifferenzierung der Gesellschaft ? das Zerfallen in Clans und St?mme, die nur um ihr eigenes ?berleben k?mpfen ? verhindern.[4]
[1] Zu Slack Richard M.Cyert, James G.March: A Behavorial Theory of the Firm. Englewood Cliffs 1963, S. 36.
[2] Zu loser Kopplung Karl E.Weick: Educational Organizations as Loosely Coupled Systems. In: Administrative Science Quarterly 21 (1976), S. 1?19, 6ff.
[3] Zu Dezentralisierung Peter M.Blau: Decentralization in Bureaucracies. In: Mayer N.Zald (Hrsg.): Power in Organizations. Nashville 1970, S. 150?174, 150ff.
[4] Zu Entdifferenzierung von Gesellschaften siehe Edward A.Tiryakian: On the Significance of De-differentiation. In: Shmuel N.Eisenstadt, Horst J?rgenHelle (Hrsg.): Macro-sociological Theory. Perspectives On Sociological Theory Volumne 1. London 1985, S. 118?134.
?ber den Autor
Stefan K?hl ist Professor f?r Soziologie an der Universit?t Bielefeld und Senior Consultant bei der Beratungsfirma Metaplan. Zusammen mit Andreas Hermwille betreibt er den Podcasts "Der ganz formale Wahnsinn. Was Organisationen zusammenh?lt" (?ber alle Podcast Player oder ?ber anchor.fm/wahnsinn). Dort ? und in dem Einf?hrungsbuch "Organisationen. Eine sehr kurze Einf?hrung" (Springer VS) - mehr zu den Hintergr?nden der hier vorgestellten Argumente.
Dieser Artikel wurde am 23.03.2020 hier ver?ffentlicht und erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors in der "Chefsachen"-Reihe des RKW Kompetenzzentrums.
Bildrechte: sozialtheoristen.de, Prof. Dr. Stefan K?hl