Zur Fachtagung "digital ? flexibel ? entgrenzt" begr??te Gabriele Held, Expertin f?r Betriebliches Gesundheitsmanagement im RKW, ?ber einhundert Teilnehmer aus Unternehmenspraxis, Wissenschaft und Politik im Plenarsaal des Frankfurter R?mer. Eingeladen hatten das Hessische Ministerium f?r Soziales und Integration, das RKW Kompetenzzentrum sowie die Stadt Frankfurt am Main. Als Kooperationspartner, die auch die inhaltliche Gestaltung von insgesamt sieben Workshops ?bernommen hatten, fungierten die Mitglieder des RKW-Arbeitskreises ?Gesundheit im Betrieb?. Stefan Gr?ttner, Hessischer Minister f?r Soziales und Integration, lobte in seinem Gru?wort, dass es den Veranstaltern gelungen sei, die Diskussion aus Arbeitgeber- wie Arbeitnehmersicht zu erm?glichen.
Hinweise auf Chancen und Risiken der Digitalisierung waren bewusst schon im Titel der Veranstaltung genannt worden: Flexibilit?t, in Gestalt zeit- und ortsunabh?ngigen Arbeitens als Voraussetzung f?r mehr Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben einerseits, Entgrenzung als potenziell gesundheitsgef?hrdendes Begleitph?nomen und Kehrseite der Medaille andererseits. Welche Dimensionen das Thema tats?chlich hat, wurde nicht zuletzt im Vortrag von J?rg Bahlow, Gesch?ftsf?hrer der GITTA mbH (Berlin), deutlich. Er stellte dabei eine Kluft zwischen Expertendiskussion und betrieblicher Praxis fest:
Einerseits ver?ndert sich vieles schneller als wir es wahrnehmen, andererseits hinkt die Wirklichkeit oft noch meilenweit hinter den Verhei?ungen her."
Mehr Pr?vention ? weniger Krankheits- und Pflegekosten!
Nach dem OECD-Wirtschaftsbericht 2015 liege Deutschland am unteren Ende der Skala sowohl was die Lebenserwartung ab 65 Jahre angehe wie auch in Bezug auf die Anteile ?gesunder Jahre? nach der Verrentung, berichtete Bahlow. Laut Statistik d?rfe sich ein 65j?hriger Norweger auf 15 Jahre guter und gesunder Lebensqualit?t freuen, w?hrend sein deutscher Altersgenosse gerade einmal 6,5 Jahre gesund verbringt - fast zwei Drittel seines Ruhestandes seien gepr?gt von Krankheit bzw. Pflegebed?rftigkeit. Die Ursachen f?r die k?rzere st?rungsfreie Restlaufzeit der Deutschen sehe die OECD-Studie unter anderem in folgenden Tatbest?nden:
- Nur wenige Arbeitgeber suchen nach den Gr?nden f?r krankheitsbedingte Fehlzeiten.
- Es existieren kaum finanzielle Anreize f?r betriebliche Pr?ventionsma?nahmen.
- Die staatliche Arbeitsschutzaufsicht wurde durch Stelleneinsparungen drastisch reduziert.
- Schutzbestimmungen werden auf prek?re Besch?ftigungsverh?ltnissen nicht angewendet, Verst??e werden nicht sanktioniert.
Angesichts dieser Befunde, einer demografisch bedingten l?ngeren Erwerbsarbeit und gleichzeitig rapide steigender Pflegeaufgaben von Besch?ftigten sei es also wichtig, die Aufmerksamkeit auf die Qualit?t des Arbeitsumfeldes und eine Erhaltung der Leistungsf?higkeit nicht nur aus betrieblicher, sondern auch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht anzustreben.

Gestaltungsfreiheit und Entlastung erm?glichen!
Die M?glichkeiten der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben sowie Entscheidungsspielr?ume seien zwar laut DGB-Index ?Gute Arbeit 2016? gewachsen. In Anbetracht der steigenden Pflegeaufgaben noch erwerbst?tiger Menschen w?ren Flexibilit?tsangebote allerdings in weitaus gr??erem Ma?e notwendig, so Bahlow. Die Chancen der Digitalisierung, etwa in Bezug auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf, k?men nur schleppend zum Tragen. Den W?nschen nach freiw?hlbarem Arbeitsbeginn und -ende oder einer selbstverantwortlichen Arbeitszeitgestaltung w?rde nicht in ausreichendem Ma?e nachgekommen. F?r ?ber 50 Prozent der in der DGB-Index-Studie befragten Besch?ftigten n?hmen Arbeitsmenge und Multitasking-Anforderungen im Zuge der Digitalisierung zu.
Gef?hrdungen fr?hzeitig erkennen und entgegenwirken!
Belastungen entst?nden ferner durch ?interessierte Selbstgef?hrdung?, wenn etwa Mitarbeiter Schutz- und Sicherheitsstandards umgingen, ihre Arbeitszeit freiwillig ausdehnten, krank zur Arbeit k?men (Pr?sentismus) oder Substanzen zur Stimulation bzw. Belohnung konsumierten. Mehr Eigenverantwortung, Selbstorganisation und Selbstf?hrung seien wichtig. Sie m?ssten aber einge?bt und durch Vorgesetzte und Kollegen unterst?tzt werden. Arbeitsorganisatorische Ma?nahmen (agile Teams) k?nnten sinnvoll sein. Richtig verstanden bedeute ?Agilit?t? alles andere als ?Hast?, sondern zeichne sich vielmehr durch Commitment, Fokussierung, Offenheit, gegenseitiges Vertrauen und Respekt aus.
F?r die Absch?tzung der sich durch Change-Prozesse ergebenden gesundheitlichen, insbesondere psychischen Belastungen empfahl der Berater eine vorausschauende Gef?hrdungsbeurteilung und pr?sentierte dazu ein Beispiel aus dem IT-Bereich. Dort w?rden in Workshops mit Besch?ftigten die in Interviews erhobenen oder beobachteten Risiken auf Verallgemeinerbarkeit hin untersucht und nach Dringlichkeit gewichtet, Sofortma?nahmen sowie Ans?tze zur mittel- und langfristigen Pr?vention erarbeitet.

Stimmen aus den Workshops
In den Workshops der Fachtagung wurden die Chancen und Risiken der Digitalisierung im Hinblick auf die Arbeitsgestaltung aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und die Vorgehensweisen anhand von Praxisbeispielen diskutiert. Die Workshop-Leiterinnen und -Leiter fassten die Ergebnisse am Ende des Tages zusammen:
- Betriebliche Gesundheitsf?rderung im Zeichen der Digitalisierung setzt vor allem eine Verhaltens?nderung der F?hrungskr?fte voraus ("F?hrung 4.0 ist Pr?vention 4.0?).
- Achtsamkeit der F?hrungskr?fte gegen?ber den Mitarbeitern, aber auch jedes Einzelnen gegen?ber sich selbst und dem Kollegen wurde als grundlegend daf?r gesehen, weitreichende Ver?nderungsprozesse im Zuge der Digitalisierung gesund zu gestalten und Leistungsf?higkeit nachhaltig zu sichern.
- Die F?hrungskraft von morgen ist ein ?Enabler?, der die Richtung bestimmt, die Ziele ins Team gibt und nach au?en vertritt. Er muss Verantwortung abgeben, Unsicherheiten aushalten und den M?glichkeiten einer verst?rkten Kontrolle (Auswertung verf?gbarer digitaler Daten) widerstehen.
- Digitalisierte Prozesse erfordern eine Anpassung der Arbeitsorganisation. Das Arbeiten in (agilen) Teams erm?glicht es, Arbeitsbelastungen zu steuern und Gef?hrdungen rechtzeitig entgegenzuwirken.
- Betriebliche Regeln, etwa f?r die Erreichbarkeit bei mobiler/zeitflexibler Arbeit, sorgen f?r Handlungssicherheit. Betriebs- und Personalr?te spielen dabei eine wichtige Rolle. Zeit- und ortsflexible Arbeit bietet mehr Selbstbestimmung (?freedom to act?). Der Arbeitsschutz bleibt aber h?ufig auf der Strecke. Mehr Selbstverantwortung der Mitarbeiter ist gefragt, damit sie ihre Gesundheit nicht riskieren.

- Die betriebliche Interessenvertretung ist auch gefragt, wenn es darum geht, das Augenmerk auf die Gefahren einer Arbeitsverdichtung durch beschleunigte Prozesse zu richten.
- Das Marketing gesunder Arbeitsgestaltung sollte auch ?ber den Tellerrand der Gef?hrdungsbeurteilung hinausblicken und zum Beispiel das Argument der Arbeitgeberattraktivit?t ins Feld f?hren. Eine lohnende Zielgruppe seien evtl. die Frauen von Handwerkern. Vielfach fallen bei ihnen die Botschaften zur Pr?vention auf fruchtbareren Boden.
- Kompetenzen f?r die Arbeitswelt der Zukunft, so Dr. Bernhard Br?ckner, in seinem Workshop-Fazit, beschr?nkten sich keinesfalls auf IT-(Sicherheits-)Wissen. Vielmehr sei der Kompetenzbegriff viel breiter zu sehen, n?mlich als Zusammenwirken vieler m?glicher ?Eigenschaften, um angemessen auf Arbeitsanforderungen reagieren und eine positive L?sung herbeif?hren zu k?nnen?. Insbesondere interdisziplin?res Denken sei gefragt und spiele etwa in der Ausbildung f?r die Fachkr?fte f?r Arbeitssicherheit eine wichtige Rolle. In den Unternehmen seien mit Betriebsvereinbarungen zur Qualifikation von Mitarbeitern und deren Einbindung in Unternehmenspolitik und ?strategie gute Erfahrungen gemacht worden. Instrumente zur Erhebung vorhandener und Planung notwendiger Kompetenzen und die Normen zur Systemorganisation (ISO 9000) k?nnten hier wichtige Unterst?tzung leisten.